Auge - Kunst

Hallo meine Lieben! Jetzt habe ich so viel über Klimt und seine Arbeit geschrieben, dass der eigentliche Gegenstand meiner Arbeit ein wenig in den Hintergrund gerutscht ist. Daher hier ein Beitrag zum Sehen und dem Auge:

Das Sehen ist eines der fünf Sinne des Menschen. 90% unserer Sinneseindrücke nehmen wir über das Auge wahr. Es hilft uns, uns ein Bild von der Welt zu machen. Das Auge steht als Sinnesorgan repräsentativ für das Sehen. Durch das Sehen "dringt die Außenwelt in die Innenwelt, wo sie, je nach Persönlichkeitsstruktur und individueller Erfahrung eigene Gestalt bekommt" (Zuffi). Sehen bedeutet allerdings nicht nur Erfahren, sondern auch Wissen. Im Französischen sind die Wörter sehen und wissen sogar verwandt (voir - savoir). 

Das linke und rechte Auge des Reh

Horusauge - 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. - Musée du Louvre - Paris

Dem Auge werden im Lauf der Geschichte immer wieder unterschiedliche Bedeutungen zugesprochen.   Das Sonnenauge des Gottes Reh steht für die Wiedergeburt. Reh verwandelt sich kurz vor Sonnenaufgang in einen Falken. Dieser Prozess gilt als Wiedergeburt. Das Sonnenauge wird oft auf Scheintüren, die ins Jenseits führen, angebracht. Der ägyptischen Religion zufolge durchschreitet der Verstorbene diese Scheintür und wird wie der Sonnengott Reh wiedergeboren.

Neben dem Sonnenauge gab es auch ein Mondauge: Die alten Ägypter trugen das Horusauge als Amulett. Horus wurde das linke Auge während eines Kampfes herausgerissen. Thot, der Mondgott, Schutzpatron der Wissenschaft und der Schreibkunst, heilte es. Das Amulett des Mondauges repräsentiert eben jenes geheilte Auge. Es fungierte als Schutzmittel gegen den "bösen Blick". Auch in der Mathematik und der Medizin des alten Ägypten wurde es verwendet. Noch heute finden wir das Horusauge auf Tarotkarten oder auf den Luzzu, den maltesischen Fischerbooten.  

 

 

In der antiken Mythologie treffen wir auf verschiedene einäugige Gestalten. So z.B. die Kyklopen, "Riesen mit nur einem Auge, mitten in der Stirn" (Aghino, Barbillon, Lissarrague). Sie sind die Kinder der Erde, Gaia, und des Himmels, Uranos, und helfen den Göttern bei ihrem Kampf gegen die Titanen. Rechts sehen wir Polyphemus, der wegen seiner Liebe zu Galateia, einer Meeresnymphe, zu dem bekanntesten und in der Kunst am häufigsten dargestellten Kyklop ist. 



Fun Fact

Der Disneyfilm "Hercules" ist vollgepackt mit allem was die antike Mythologie zu bieten hat. Natürlich finden sich dort auch die drei Graien Schwestern:


Die Kyklopen hatten im Vergleich zum normalen Menschen schon nur ein Auge. Die Graien jedoch hatte ein viel schlimmeres Schicksal getroffen. Die drei grauhäutig geborenen Schwestern, mussten sich zu dritt ein Auge und einen Zahn teilen. Beides entwendete ihnen der Held Perseus zu allem Überfluss auch noch. Die Szene sehen wir unten im Gemälde.

Im Zusammenhang der Antike zeigen "künstlerische Darstellungen  (...) häufig die Dämonie des Blickes, etwa des Hauptes der Medusa" (Flach). Durch die Göttin Athene mit Schlangenhaar gestraft, verwandelt der Blick der Medusa jeden in Stein. Der oben bereits genannte antike Held Perseus schlug ihr den Kopf ab. Fortan trug ihn die Göttin an ihrem Schild zur Abwehr des Bösen. 

Johann Heinrich Wilhelm Tischbein - "Polyphemus" - 1802 - Gemälde - Landesmuseum Oldenburg


Sir Edward Burne-Jones - "Perseus und die Graien" - 1878-1892 - Öl auf Leinwand - 170 x 154 cm - Staatsgalerie - Stuttgart

Michelangelo Merisi da Caravaggio - "Medusa" - ca. 1597 - Öl auf Leinwand - 60 x 55 cm - Uffizien - Florenz


Jean-Jacques-François Le Barbier - Repräsentation der Erklärung der "Menschen- und Bürgerrechte von 1789" (Detail) - ca. 1789 - Öl auf Holz - 71 x 56 cm - Musée Carnavalet - Paris

Auge der Vorsehung über dem Hochaltar in der Hofkirche St. Leodegar in Luzern, Schweiz


Als ikonographisches Zeichen wird das Auge "entgegen der anthropologischen Erscheinung oft nicht als Paar, sondern als singuläres Objekt dargestellt" (Flach).  In christlichen Darstellungen findet sich das Auge oft als Symbol für Gott und seine Allgegenwärtigkeit. Tatsächlich heißt es sogar im alten Testament der Bibel: "An jedem Ort sind die Augen des Herrn, sie wachen über Gute und Böse." (Buch der Sprichwörter 15,3). Wer "Illuminati" gesehen oder gelesen hat kennt das Auge der Vorsehung: ein menschliches Auge umrahmt von einem Dreieck, das für die Dreifaltigkeit steht, umgeben von einem Strahlenkranz. 

Das Auge in der Kuppel eines Gotteshauses steht für die Öffnung zum Himmel. So z.B. in der Hofkirche St. Leodegar in Luzern in der Schweiz ( Bild oben rechts).

Im neuen Testament heilt Gott einen Blinden. Der Übergang von Nichtsehen zu Sehen ist hier eine "Metapher für die Enthüllung der Wahrheit" (Zuffi). Ob Sehen nun immer Wahrheit bedeutet, sei in einem Zeitalter von Photoshop und Green Screens mal dahingestellt... 

Abseits der mythologischen und religiösen Bildthemen haben sich Künstler aller Epochen mit dem Thema Auge und Sehen beschäftigt. (Meistens ist es durch die Porträtmalerei unweigerlich zum Thema geworden.) Die Impressionisten verstehen "Sehen (...) als Prozess" (Flach). Ihre Arbeiten bestehen aus "eigentlich referenzlose(n) Einheite(n)" (Flach) wie Strichen oder Punkten. In ihrer Gesamtheit ergeben sie jedoch ein Bild und verdeutlichen so die "Produktivität des Auges" (Flach). 

Camille Pissarro - "Boulevard Montmartre" (Detail) - 1897 - Öl auf Leinwand - 74 x 92,8 cm - Hermitage Museum - Sankt Petersburg

rechts gesamtes Gemälde

Im Surrealismus begegnen uns Bilder in denen "das Augenmotiv häufig fehlend oder verstümmelt" (Flach) ist. Besonders René Magritte denkt malend über "Wahrnehmung und Sinnestäuschung" (SWR). 

René Magritte - "Der falsche Spiegel" - 1928 - Öl auf Leinwand - 54 x 80 cm - The Museum of Modern Arts - New York


nebenbei

Die Frau ist auch bei Magritte meistens nackt. Er ersetzt in "Le Viol" sogar das Gesicht der Frau durch einen weiblichen Torso. Meine ganz eigene Interpretation dieses Bildes: Die Reduktion der Frau auf ihren Körper. Man schaut zwar in ihr Gesicht, sieht aber doch wieder nur ihren Körper, der bei Magritte auf fast schon witzige Weise ein Gesicht formt: Brüste als Augen, der Nabel als Nase und die Scham als Mund. 

René Magritte - "Le Viol" - 1945 - Öl auf Leinwand - 65,3 x 50,4 cm - Musée national d'arte moderne - Paris 


La curacion del ciego El Greco Dresde

El Greco - "Heilung des Blindgeborenen" - ca. 1567 - Öl auf Holz 65,5 x 84 cm - Gemäldegalerie Alte Meister - Dresden

Camille Pissarro - Boulevard Montmartre - Eremitage

Oft wird das Auge in der Kunst repräsentativ "zum Körperersatz, indem es isoliert wird, um somit gleichzeitig auf die Dominanz des Sehsinns zu verweisen" (Flach).  Das Auge steht pars pro toto für den Menschen. 

Kommen wir nun also endlich zur zeitgenössischen Kunst. Hier habe ich einen wirklich witzigen Künstler gefunden, in dessen Werkmittelpunkt das Auge steht: Tony Oursler.

Dachtet ihr bei dem Auge der Vorsehung bereits an George Orwell und/ oder "big brother is watching you"? Oursler beschäftigt sich unter anderem mit eben jenem Thema. So auch seine Arbeit "The Watching", die 1992 auf der Documenta IX im Fridericianum in Kassel zu sehen war. 

Die Besucher haben permanent das Gefühl beobachtet zu werden. Das liegt unter anderem an den Dummies, die "die Besucher mit ihrem drohenden Blick direkt zu fixieren scheinen (...) Eine konkrete Beobachtung des Rezipienten findet durch eine weitaus weniger auffällige Figur statt. In der Anatomie Hanging Figure - Poor Mans Simularca fällt der durch eine Videokamera ersetzte Kopf auf. Diese Kamera kann nun die Bewegungen der Besucher im Treppenhaus verfolgen und scheint sie damit ganz offensiv visuell zu bedrängen. Gesteuert wird diese Kamera über einen Monitor in einem Kontrollraum, in dem weitere Besucher Platz nehmen können, um die Kamera - also das Gesichtsfeld der Figur - zu steuern. Der Blick durch diesen Monitor zeichnet (...) die Besucher im Treppenhaus auf und kontrolliert damit diese Situation". Außerdem vermittelt es den Betrachtern im Kontrollraum den Eindruck, dass sie selbst die Sicht der Kamera steuern, es also quasi ihr eigenmächtiger Blick ist, mit dem sie die weiteren Besucher der Installation überwachen. Dieser erweist sich jedoch als Illusion, denn sie sehen nur, was durch den zuvor geregelten bzw. zugeteilten Blick der Kamera möglich ist" (Flach). 

Zugegeben, ich habe witzige Arbeiten versprochen und das halte ich auch, vielmehr Oursler hält sie. Obwohl Spaß und Amüsement eine untergeordnete Rolle spielen. - Ich finde die Arbeiten wirklich witzig, ihr vielleicht auch? - In seinen Video Arbeiten schlägt er die Brücke zwischen Videokunst und Skulptur. Er haucht den Skulpturen sozusagen Leben ein, gibt  ihnen ein  Ge-


sicht, Bewegung und eine Stimme, die mit den Rezipienten spricht. Der Fokus liegt dabei auf den Augen und dem Mund. Da Videoarbeiten laut Oursler keinen Geruch übertragen, lässt er die Nase gerne mal weg.  

Warum lasse ich Tony Oursler nicht einfach selbst sprechen? Wenn ihr nur einen kleinen Eindruck von seiner Arbeit bekommen wollt, reichen schon die ersten paar Minuten. Ich habe mich wirklich in diese witzigen sprechenden Skulpturen mit ihren tiefsinnigen Reden verliebt. Wie findet ihr sie? Schreibt mir gerne einen Kommentar darüber. 

Ich habe mich mal selber an einer ähnlichen, etwas stümperhaften, schnellen Collage nach Oursler versucht, die an mein Profilbild angelehnt sein soll:

Nach diesem Sprint durch die Kunstgeschichte des Auges gehe auch ich nun endlich ins Wochenende! Gute Nacht und an die, die feiern und anfangen Dinge doppelt zu sehen, haltet es wie Christian Morgenstern: "Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht." Vielleicht erspart ihr euch ja ein paar mal hinsehen dadurch. In diesem Sinne: Chears! 


Fun Fact

Wem die sprechenden Puppengesichter irgendwie bekannt vorkommen, dem gebe ich nur den Tipp: David Bowie, "Where Are We Now?". Eben dieses Musikvideo stammt von Tony Oursler.



Eine kurze Info zu den Künstlern Magritte und Oursler findest du unter Künstler.

Die genaue Literaturangaben zu dem zitierten Texte von Aghion, Barbillon und Lissarrague, Flach und  Zuffis 12. Band der Bildlexikon Reihe findest du in meiner Bibliothek.   

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Kommentare: 1
  • #1

    Herbstgold (Donnerstag, 27 Juli 2017 22:15)

    Ich liebe deine kurzen und prägnanten Ausflüge durch die Kunstgeschichte! Weiter so!